In der Deutschschweiz reibt man sich nach der Wahl von Pierre Maudet die Augen: Wie schafft es ein Staatsrat, der ein Korruptionsdelikt begangen hat und vom Regierungsgremium entmachtet wurde, zweieinhalb Jahre nach seinem Rücktritt zurück ins Amt gewählt zu werden? Zumal der Ex-FDP-Mann auf keine Unterstützung von etablierten Parteien zählen konnte. Die Bürgerlichen versuchten ihn gar mit einer einmaligen Allianz zu verhindern.
Zeit also, das Erfolgsrezept von Maudet aufzuschlüsseln. Auch deshalb, weil im Herbst nationale Wahlen anstehen und die Parteien an ihren Strategien feilen.
In Maudets Wahlkampf stachen seine Auftritte in der Auto-Garage, im Coiffeur-Salon und in Bistros besonders hervor: In solchen Räumlichkeiten organisierte er rund 20 öffentliche Debatten. Seine Nähe zu kleinen Unternehmern ist kein Zufall.
Nachdem Maudet 2020 in der Genfer Politik zur «Persona non grata» erklärt worden war, lancierte er eine Beratungsstelle für Firmen. Sie half Opfern von «administrativer Gewalt», besonders den von der Pandemie gebeutelten Selbstständigen. Sie sind es auch, die heute das Rückgrat von Maudets Bewegung «Libertés et Justice sociale» ausmachen – vom Hotelier über die Coiffeuse bis zum Garagisten.
Mit ihnen ging der 45-Jährige auf Stimmenfang: Am Bahnhof verteilte er Schokolade an Pendlerinnen, in sozial schwächeren Quartieren versuchte er Menschen zu überzeugen, erstmals wählen zu gehen. Neben der starken Präsenz vor Ort setzte Maudet auf die sozialen Medien: Seine Bewegung gab im Wahlkampf für Beiträge auf Facebook und Instagram am zweitmeisten Geld aller Genfer Parteien aus. Einen Bogen machte der Politiker dagegen um die traditionellen Medien, denen er seit der Abu-Dhabi-Affäre misstraut.
Der Erfolg Maudets zeige, dass sich eine intensive Kampagne vor Ort nach wie vor auszahle, resümierte Politologe Andrea Pilotti von der Uni Lausanne gegenüber «Le Temps».
Das bringt auch andere Parteien zum Nachdenken. Der Fraktionschef der Stadtgenfer Grünen sagte zur «Tribune de Genève», dass es Maudet sehr gut gelinge, seine Rede zu vereinfachen. «Wir müssen mehr auf die Menschen zugehen und ihnen zuhören», so Matthias Erhardt.
Lassen sich die Grünen für die nationalen Wahlen von Maudet inspirieren? «Der Populismus von Maudet ist mit Sicherheit nicht unser Modell», stellt die Genfer Ständerätin und nationale Wahlkampfleiterin Lisa Mazzone klar. Der Wahlkampf direkt bei den Leuten sei für die Partei zwar zentral. «Doch setzen wir nicht auf die Mobilisierung rund um eine Einzelperson, sondern rund um unsere Überzeugungen, allen voran den dringend nötigen Kampf gegen den Klimawandel.»
Mitte-Nationalrat Vincent Maitre hebt derweil hervor, dass Maudet seine Kampagne auf eine bestimmte Zielgruppe ausgerichtet habe. Dies sei Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf vor Ort, so der Genfer, der im Vorstand der nationalen Partei sitzt. Die Mitte wolle sich davon für die Wahlen im Oktober ein Beispiel nehmen. «Wir möchten stärker als in anderen Jahren als Basispartei auftreten und bei den Familien und der Mittelschicht mit konkreten Vorschlägen punkten.» Etwa mit der lancierten Initiative zur Kostenbremse im Gesundheitswesen.
Klar ist aber auch, dass Maudets Strategie kein Allerweltsrezept ist. Der 45-Jährige habe ein «eingeschworenes Team» um sich aufgebaut, sagte Politologe Pascal Sciarini im Westschweizer Radio. Er sei sich nicht sicher, ob die Kampagne unter dem Radar der Medien funktioniert hätte, wäre der «Glaube» der Anhänger an Maudet nicht so gross gewesen. (aargauerzeitung.ch)